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Am äußersten Rand der Klippe hatte Prinz Eugen einen kleinen Holzpavillon errichtet. Korinthische Säulen trugen das Dach, unter dem Kjell und Henning nun schon seit einer Stunde saßen und darauf warteten, dass die Techniker endlich fertig wurden.
Per war vor einer halben Stunde mit allen neun Mitgliedern seiner Abteilung angerückt und arbeitete auf der Terrasse. Kjell konnte die grönländische Rechtsmedizinerin Suunaat Kjærgaard von hier aus auf der Terrasse neben Maeros Kopf kauern sehen.
Henning bot Kjell noch eine von seinen Zigaretten an. Wie immer hatte er sich auch eine frische Zeitung mit zum Tatort gebracht, um die Warterei zu überstehen. Doch diesmal blieb sie wegen der Aussicht ungelesen auf der Holzbank liegen.
Kjell öffnete sein Notizbuch und überflog die letzten Einträge. Da gab es eine Gegenüberstellung zu der Frage, welche von den vier Figuren dieses Falls miteinander verbündet oder Gegner waren. Fabia, Maero, die Bärtige und der zweite Mann am Sveavägen.
„Fabia Terni und Massimo Maero“, sagte Kjell zu Henning. „Bisher glaubten wir, die beiden gehörten zusammen, weil Maero so offenkundig vor der Bibliothek auf sie gewartet hat. Wenn er sich dort so präsentiert hat, kann er sie nicht verfolgt haben und deshalb nicht der Hinweisgeber des Mörders gewesen sein.“
Kjell sah Hennings Gesicht nur als schwarze Fläche, weil er die Sonne im Rücken hatte.
„Vielleicht hat Fabia ja auch Maero verfolgt“, überlegte Henning. „Da waren wir uns ja nicht sicher.“
„Möglich, aber jetzt gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten. Sie sind beide Diplomaten.“
„Und sie sind beide tot.“
„Und sie haben sich am Freitag getroffen und miteinander gesprochen. Lauter Gemeinsamkeiten.“
„Wenn die Gemeinsamkeiten hervorstechen, dann musst du nach den Unterschieden suchen.“
Kjell nickte. „Die Mordmethode. Bei Fabia ein geschickt getarnter Verkehrsunfall und hier ein offener Mord von archaischer Grausamkeit.“
„Ein ritueller gar. Eine Hinrichtung.“
„Es gibt noch eine Gemeinsamkeit, Henning. Beide Morde waren angekündigt.“ Kjell deutete mit dem Daumen über seine Schulter, wo am anderen Ende der Bucht die Botschaft lag. „Maero bekam seine Warnung gestern. Ich meine den Speer.“
„Und Fabia Terni?“
„Fabia Terni bekam sie in dem diplomatischen Kuvert.“
„Wie kommst du denn darauf? Das Krypto soll eine Drohung sein?“
„Weil die Bildsprache stimmt. Das Kunstetruskisch sollte vermitteln, dass die Botschaft aus der Heimat stammt. Und dasselbe hat es mit den Besuchen in der Botschaft auf sich. Die Verkleidung dient demselben Zweck wie die Sprache des Kryptos. Dadurch gibt sich der Absender den beiden zu erkennen.“
Henning nickte vor sich hin. „Die Lösung liegt also in Rom.“
„Darauf wird es hinauslaufen.“
„Zum Glück haben wir unseren besten Mann dorthin geschickt.“
„Lass uns abwarten, was die Italiener Theresa als Lösung anbieten“, schlug Kjell vor, nachdem sie beide gelacht hatten. „Es …“
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn.
„Ich bin auf etwas gestoßen“, sagte die Anruferin Sofi Johansson. „In Lovisas Hosentasche steckt ein Schließfachschlüssel vom Centralbahnhof.“
„Weißt du schon von Maero?“
„Barbro hat es mir erzählt. Sollen wir wirklich nicht kommen?“
„Das bringt nichts, Sofi. Wir warten hier nur. Was ist mit dem Schlüssel?“
„Lovisa kann sich an kaum etwas erinnern. Sie sagt, dass sie im Laufe des Abends ihr Telefon verloren haben muss. Sie weiß nicht, wie sie an den Schlüssel gekommen ist.“
„Kann es sein, dass sich Lovisa ein Schließfach genommen hat, um ihre Sachen dort zu verstauen? Sie hatte ja nicht mal eine Jacke bei sich.“
„Das ist nicht unmöglich, aber auch nicht sehr plausibel. Dann müsste sie eine Amnesie haben. Theoretisch kann sie den Schlüssel irgendwann auf der Straße gefunden haben.“
„Hast du herausgefunden, wie lange sie mit Fabia gesprochen hat?“
„Nein. Ich muss nachsehen, ob sich das Objekt in dem Schließfach befindet.“
Sie meinte das Objekt der Gier.
„Tut mir leid, aber du kannst heute Abend keinen von den Technikern haben. Per braucht hier jeden Mann.“
Sofi fluchte.
„Barbro und Theresa sollen dir helfen und eine Ausrüstung mitbringen.“
Sofi legte grußlos auf.
Henning deutete zum Wasser. „Sieh mal! Da kommt Ida!“
Kjell drehte den Kopf. Unten am Steg legte ein Boot an, das genau so aussah wie sein Motorboot. Und die blonde Frau darin sah genau so aus wie Ida.
Eine Minute verging, bis sie in ihren Sandalen angeschlendert kam. Sie trug ihr helles Sommerkleid mit den Blümchen.
„Hallo!“, sagte sie, setzte sich zwischen die beiden Männer und schwieg.
„Ida“, sagte Kjell nach einem Weilchen. „Ich will nicht aufdringlich sein, aber was machst du hier? Woher weißt du überhaupt, dass ich hier bin?“
„Habt ihr vorhin den Hubschrauber bemerkt?“
Die Männer nickten einhellig. Vor einer halben Stunde war ein Hubschrauber über Djurgården gekreist.
„Sie haben es direkt auf Kanal 7 übertragen“, sagte Ida. „Alle konnten sehen, wie ihr beiden hier sitzt und raucht.“
„Herrgott“, murmelte Henning.
„Und da dachtest du, du könntest mit dem Boot herkommen und ein bisschen mit uns hier sitzen.“
„Nein“, sagte sie und stand auf. „Kommt mit.“
Sie folgten ihr bis zum unteren Absatz der Terrassentreppe. Alle Männer von der Technischen ließen für eine Sekunde von ihrer Arbeit ab und freuten sich über Idas Anblick.
„Hallo Ida!“, rief Per und winkte wie ein Idiot. „Ihr könnt euch bereit machen. Wir sind fertig.“
Ida griff in ihre Stofftüte und zog ein Buch hervor. Sie hielt es weit ausgestreckt von sich, damit Kjell und Henning das Bild auf dem Umschlag mit dem Anblick der Terrasse vergleichen konnte.
„Im Fernsehen wirkte der Engel noch viel auffälliger als jetzt“, sagte sie.
Die beiden starrten stumm auf Idas Gleichung.
„Es ist Vanth, die Künderin des Todes und Gefährtin von Charun. Sie tritt geflügelt auf und trägt als Attribute eine Fackel oder einen Schlüssel.“
„Ein Schlüssel?“, fragte Henning „Hast du Schlüssel gesagt?“
„Ja, wahrscheinlich der Zugang zur Unterwelt.“ Ida schlug das Buch auf. „Hier ein antiker Fries als Beispiel. Das ist Vanth, die vom Himmel herabschwebt, und das da ist Charun. Er trägt einen Bart und schwingt seinen Hammer.“
„Wo du Hammer sagst“, rief Per von oben und streckte ein durchsichtiges Biopack in die Höh. „Ich hab hier einen für euch!“
Kjell fuhr sich ums Kinn. Der im Buch abgebildete Hammer glich einem Krocket-Schläger, der in Pers Tüte eher einer Axt.
Per war aufgestanden und kam die Treppe herab. „Die Sache ist einfach. Der Hammer ist ähnlich hergestellt wie der Speer. Und die gleichen Fingerabdrücke. Die Schädeldecke ist zertrümmert. Das ist auf keinen Fall hier geschehen, weil auf der Terrasse kein Blut klebt.“
„Wie lange ist er schon tot?“, fragte Kjell die Gerichtsmedizinerin.
Suunaat hörte auf, ihre Sachen einzusammeln und kam auch die Treppe herab. „Kommt darauf an, wie lange er hier in der Sonne lag. Die Starre ist voll ausgeprägt. Eher am Morgen gestorben als später.“
Das Museum hatte heute Ruhetag. Die Kuratorin war erst am Nachmittag zu einem Kontrollbesuch vorbeigekommen. Maero konnte also seit gestern Nacht dort liegen.
Henning zog Ida sanft das Buch aus der Hand und hielt sich die aufgeschlagene Seite vor Augen. „Mal von der Tatsache abgesehen, dass auf diesem Fries Charun einen Bart trägt und einem Mann mit dem Hammer den Kopf einschlägt! Ist euch aufgefallen, dass dieser Fries hier aus einem etruskischen Grab stammt, das in derselben Stadt liegt, aus der auch Fabia Terni stammt?“
Kjell warf einen Blick auf die Bilderklärung. Tatsächlich, das Grab lag in Tarquinia.
„Die Italiener haben uns heute bestätigt, dass Fabia Terni von dort stammt“, sagte Henning.
„Wo lag denn der Hammer?“, wollte Kjell von Per wissen.
„Er wurde neben den Kopf gelegt.“
Mit dem Buch in der Hand stieg Henning auf die Terrasse und verschwand durch die Tür ins Haus. Nach einigen Augenblicken folgte Kjell ihm hinterher und fand ihn im Salon am Fenster.
„Siehst du es?“, fragte Henning.
Vom Fenster aus blickte man direkt auf die Botschaft. Die Blicklinie traf dabei jedoch auf ein Hindernis. Vor dem Haus stand eine weitere Bronzestatue. Sie war viel kleiner als der Engel und stellte einen Bogenschützen dar, der die Sehne bis zum Anschlag spannte. Der Blick zur Botschaft fiel genau zwischen Bogen und Sehne hindurch.
„Prinz Eugen hatte eine wirklich aufreibende Liebe zu Skulpturen.“
„Das ist sicher kein Zufall, Henning. Er hat die Statue so aufgestellt, dass sie in Blickrichtung zur Botschaft steht. Aus rein optischen Gründen, die nichts mit dem Fall zu tun haben. Die steht schon seit einem Jahrhundert da.“
„Das ist es nicht. Die Statue ist Charun.“
„Charun?“
„Ich glaube schon.“
„Das kann nicht stimmen. Die Statuen sind alle griechisch. Auch der Engel ist ja kein Engel sondern die Siegesgöttin Nike.“
„Bist du dir da sicher?“
„Der Engel hat den Körper einer Frau. In vielen Städten auf der Welt steht eine Siegessäule mit einer goldenen Nike-Statue darauf. Aber heute wird sie oft für einen Friedensengel gehalten. Dabei steht sie für Krieg und Sieg.“
„Die Zeiten ändern sich eben“, sagte Henning. „Und wir uns mit ihnen.“
Nur in Stockholm änderten sich die Zeiten anscheinend nicht. Sie sahen weiter durchs Fenster.
„Ich glaube, du meinst Cheiron“, sagte Kjell.
„Kann sein.“
„Das ist nicht dasselbe. Der etruskische Charun hängt mit dem griechischen Charon zusammen. Das ist der Fährmann über den Totenfluss. Cheiron aber hat damit nichts zu tun. Er ist ein Kentaur, der von Herakles mit einem Pfeil getötet wurde. Die beiden Namen klingen nur ähnlich.“
„Du weisst ja, dass ich nur neunte Klasse habe.“
„Gehen wir nachschauen.“
Sie umrundeten das Haus. Ida gesellte sich zu ihnen. Am Sockel der Statue war ein Schild angebracht. Sie stammte von Antoine Bourdelle, und Prinz Eugen hatte sie im Jahre 1909 dort aufstellen lassen.
„Es ist auch nicht Cheiron“, sagte Kjell. „Es ist Herakles. Das ist ja auch logisch. Herakles ist ja der Sage nach der Schütze und Cheiron der Getroffene.“
Henning kratzte sich am Kopf. „Ich war mir gerade noch ganz sicher, dass es dieser Cheiron ist.“